
Wie gelingt eine gute Eltern-Kind-Beziehung?Familientherapeutin Mona Kino erklärt im Interview wie Empathie als Grundlage für Verständnis und Kommunikation in der Erziehung helfen kann
In unserem oft stressigen täglichen familiären Miteinander ist Gelassenheit oft das A und O, wenn es um die Art unserer Kommunikation geht. Aber was, wenn uns diese eben viel zu oft nicht gelingt und unsere Beziehung zum Kind darunter leidet oder wir gar nicht erst wollen, dass es soweit kommt? Für Familientherapeutin Mona Kino ist Empathie die Voraussetzung für eine gelingende Eltern-Kind-Beziehung. Die gute Nachricht: Empathie kann man lernen und auch bei Kindern fördern. Wir haben mit der erlebnisorientierten Familientherapeutin nach Jesper Juul und Autorin des Buches „Zeit für Empathie“ (auch auf türkisch erhältlich!), über das Thema ausführlich gesprochen. Vielleicht kennt ihr Mona Kino auch schon als Ratgeberin aus unserer „Frag mal Mona“ Kólumne hier bei uns.
Wir haben Mona gefragt was das Geheimnis gelingender Eltern-Kind-Kommunikation ist, warum Empathiefähigkeit nicht nur in dieser Beziehung so wichtig ist, wie wir Streit umgehen oder besser damit umgehen können und vieles mehr. Mona hat einfach so viele schlaue Tipps für uns und liefert super spannende Denkanstöße. Aber lest selbst.
Was ist das Geheimnis einer gelingenden Eltern-Kind-Beziehung?
Mir hat am meisten geholfen, nichts zu persönlich zu nehmen. Das Gehirn von Kindern entwickelt sich bis in das junge Erwachsenenalter hinein. Und wenn ich mich von den Entwicklungsschritten, wie beispielsweise die Zeit in der Trotzphase, so um das 3. Lebensjahr herum, nicht persönlich angegriffen fühle, kann ich mein Kind oder meine Kinder sicher, liebevoll und gelassen durch die Tobsuchtsanfälle begleiten. Was für mich noch ausschlaggebend war, und was ich in anderen Familien, die ich berate auch erlebe: Je weniger ich mir Sorgen mache, beispielsweise, wenn ich jetzt nicht durchsetze, dass mein Kind alleine einschläft, desto entspannter und selbstständiger finden Kinder in ihrem Tempo heraus, was gut für sie ist. Jedes Kind braucht da ja was anderes. So wie wir Erwachsenen ja auch nicht alle um die gleiche Zeit ins Bett gehen, oder jede Nacht alleine schlafen wollen, oder? Außerdem drücken Kinder damit ihr Bindungsbedürfnis aus. Das ist je nach Entwicklungsphase mal stärker, mal schwächer.
Aber immer zu denken: Ach, der Tobsuchtsanfall hat nichts mit mir, sondern mit dem Entwicklungsstand des kindlichen Gehirns meines Kindes zu tun, ist natürlich nicht möglich. Das wäre ja übermenschlich. Und natürlich wird es im Laufe der vielen Jahre auch sorgenvolle Tage Wochen geben. Was ich meine, ist, wenn man sich dauerhaft sorgt oder angegriffen fühlt, ist das kontraproduktiv für den Wunsch nach einer gelingenden Eltern-Kind Beziehung. Und es ist wichtig, dann bei mir selbst zu gucken. Was ist da bei mir los?
Wie können wir streiten ohne uns schlecht zu fühlen, geht das überhaupt?
Das ist eine sehr gute Frage. Streiten, ohne sich schlecht zu fühlen, geht das? Meine Antwort darauf: Ja und Nein. Es gibt Tage, da streite ich mich gerne und fühle mich auch nicht schlecht, wenn ich meine Meinung vertrete. Und an anderen Tagen ist es für mich ganz schrecklich mich zu streiten. So schrecklich, dass ich am liebsten vor mir und den anderen für immer davonlaufen will und denke: „Jetzt ist ALLES aus und vorbei, weil wir uns streiten.“ Also alles in allem bin ich dann etwas sehr dramatisch und unspezifisch.
Meine Lieblingsantwort darauf, wie wir das lernen können ist: Nehmt euch bevor ihr eine Familie gründet Zeit für einen Blick auf euch. Lernt von euch selbst zu sprechen und dem anderen unvoreingenommen Zuzuhören.
Das habe ich mal in einem Buch von Thich Nhat Hanh gelesen. Ich würde dafür etwa ein Jahr ansetzen, indem man auch andere Übungen lernt, die einem dabei helfen, das Kind mit Freude zu empfangen. In friedlichen Zeiten kann man sich da viel besser Gedanken drüber machen, als wenn es schwierig ist. Und das ist es ja nach der Geburt in den sehr vielen Fällen.
Niemandem würden wir unser Kind anvertrauen, der keine ausreichende Ausbildung hat. Meistens fliegen Eltern auf Autopilot während ihre Kinder heranwachsen, obwohl sie gar keinen Pilotenschein haben. So einen Kurs hätte ich mir jedenfalls gewünscht, in dem ich lernen kann, wie ich mir und dem anderen nach einem Gewitter wieder liebevoll und freundlich begegnen kann. Und, dass es gut ist, sich als Paar vor der Geburt von dem Paar zu verabschieden, das man bis dahin war. Und der mich dazu inspiriert hätte, mir Gedanken darüber zu machen, welche neue Vision von uns mir vorschwebt. Mich zu fragen, wo komme ich her, wie war meine Familienkultur, inklusive streiten. Aber auch, wie wurde in meiner Familie vermittelt, das ich geliebt werde? Ist das sinnvoll, oder möchte ich eigentlich etwas ganz anderes? Und das ist ja so wichtig, zu wissen, was man möchte. Nächstes Jahr will ich mit anderen Expert*innen zusammen einen solchen Jahres-Kurs anbieten.
Und wenn man jetzt schon eine Familie hat?
Dann kann man sich diese Fragen natürlich auch noch genauso stellen. Es ist ja erstens nie zu spät neu anzufangen und zweitens kann man das genau jetzt in diesem Moment tun. Das ist dann nur eher, wie es bei mir war: Kernsanierung bei laufendem Betrieb. Aber dadurch habe ich gelernt geduldig mit mir zu sein. Und den anderen…
Was genau ist Empathie?
Kurz gesagt ist Empathie die in uns angelegte, komplexe Fähigkeit, in die Haut eines anderen Menschen schlüpfen zu können, um die Welt bewusst aus dessen Perspektive zu sehen und auch emotional nachzuempfinden. So können wir ihm wertfrei, offen, neugierig und wohlwollend auf Augenhöhe begegnen.
Doch was so einfach klingt, entwickelt sich erst im Laufe der Kindheit und Jugend mit zunehmenden Reifegrad unseres Gehirns. Es benötigt dafür sieben verschiedene andere Fähigkeiten, die das menschliche Gehirn im Laufe des Heranwachsens erwirbt. Der amerikanische Neurobiologe Dan J. Siegel hat darüber ein sehr gutes Buch geschrieben: „Mein achtsames Gehirn.“ Ist diese Fähigkeit entwickelt, können wir uns auch dann in andere Lebenswelten hineindenken und einfühlen, wenn wir unter Stress stehen und unsere Gefühle uns beherrschen.
Direkt nach der Geburt drückt sich ein erster Baustein bei Kindern durch das sogenannte Spiegeln aus. Eins meiner Lieblingsbeispiele ist dieses: Ein Kind auf einer Säuglingsstation hat Hunger und beginnt zu weinen. Innerhalb kurzer Zeit beginnen alle anderen Kinder auch zu weinen. Oder, wenn uns Kinder unser eigenes Verhalten spiegeln. Sie lernen ja durch nachahmen. Ist bei uns zu Hause schlechte Stimmung oder streiten wir uns viel, beginnen unsere Kinder sich oft auf diese Weise auch auszudrücken.
Kann man Empathie lernen? Wenn ja wie?
Empathie kann man genauso einfach erlernen, wie man ein Instrument erlernen kann. Es gibt drei Wege, wie Kinder Empathie erlernen – und alle drei zusammen ermöglichen das Heranreifen zu empathischen Persönlichkeiten:
1. Erleben, wie Erwachsene gut mit Kindern umgehen
2. Erleben, wie Erwachsene gut miteinander umgehen
3. Bewegungserfahrungen machen
Dafür benötigt es genau drei Dinge: den eigenen Körper, bewussten Lernwillen und regelmäßige Praxis. Je öfter wir ein Instrument spielen, desto sicherer werden wir im Umgang mit allem, was mit Musik zu tun hat. Üben wir jedoch nicht, dann verkümmert diese Fähigkeit, wie jede, die wir nicht anwenden. »Use it or lose it« sagen die Neurowissenschaftler dazu. Und das Beste daran ist, man kann Empathie auch zu Hause ungewaschen und im Schlafanzug üben. Unsere Familienmitglieder nehmen uns so wie wir sind, auch ohne Make-up und schickes Outfit. Allen voran unsere Kinder.
Solange man Kindern nicht sagt, was sie fühlen, denken oder machen sollten, erlernen sie diese Fähigkeit durch die Reifung des Gehirns. Begegnen wir ihnen in dieser Zeit also liebevoll mit Offenheit, Vertrauen und Neugier für ihre momentane Lebenswelt, wird ihnen das später ganz leicht von der Hand gehen. Vor allem, und darum geht es ja in Wirklichkeit, in herausfordernden und schwierigen Situationen.
Kann ich das auch noch lernen, wenn ich älter bin?
Ich bin ein gutes Beispiel dafür. Ich bin unter schwierigen Bedingungen groß geworden und an den meisten Tagen in meiner Kindheit und Jugend äußerst selten mit Erwachsenen in Kontakt gewesen, die sich in meine Perspektive als Kind angemessen eingefühlt oder hineingedacht hätten. Das ist ein Generationsthema. Aber mit leicht im Alltag einbaubaren Übungen konnte ich das alles nachholen. Die Übungen sind aber auch heute für mich als Geübte gut. Denn in unserer hektischen, digitalen Welt, sind wir mittlerweile die meiste Zeit auf das fokussiert, was im Außen geschieht. Dieses Ungleichgewicht führt auch oft dazu, dass wir uns dann mit allen um uns herum beginnen zu streiten. Eine meiner Lieblingsübungen ist für zehn Atemzüge, die Augen zu schließen und nachzuspüren, was fühle ich, was spüre ich und was nehme ich wahr? Und hinterher kurz zu reflektieren, wie es mir vor dem Augenschließen ging und jetzt nachdem ich so differenziert auf meine Wahrnehmung geachtet habe. Ich kann mich aber auch eine Minute mal recken und strecken, oder ganz bewusst durch den Raum gehen und mit meiner Wahrnehmung spielen. Wer ist da? Und wie geht es mir damit. Wie spüre ich meine Füße, meine Hände, meinen Kopf. Und ich kann meine Achtsamkeit mal zu sechzig Prozent auf mich legen und gleichzeitig die restlichen vierzig auf meine Umgebung. Dieses sechzig – vierzig Modell ist für mich der optimale Zustand, um empathisch zu sein.
Aber das bieten doch auch viele Achtsamkeitsschulen an. Was unterschiedet das Empathietraining denn davon?
Ein wichtiger Punkt beim Empathietraining ist der wertfreie Austausch mit anderen darüber. Das muss natürlich nicht jedesmal sein. Was aber an einem gemeinsamen Austausch so wichtig ist, ist, dass ich eine Idee davon bekomme, dass dieselbe Übung im selben Moment bei mir etwas anderes bewirken kann, als bei Anderen. Bin ich danach vielleicht wacher, bemerkt mein Mann durch das Innehalten seine Müdigkeit und unser Kind vielleicht seinen Hunger. Und, alles drei ist ja völlig okay. Je vertrauter mir diese Erkenntnis ist, desto eher kann ich im Streitfall sagen: „Ah, so siehst du das. Das ist ja interessant, darüber muss ich mal nachdenken.“ anstatt in den Kampfmodus zu gehen und den anderen von seiner Meinung überzeugen zu wollen.
Keiner sieht die Welt so, wie ich sie sehe. Und jeder hat einen Grund dafür, weshalb er sich so oder so merkwürdig verhält.
Meine Mutter, die gerade 80 wurde, sagte neulich als ich mit ihr darüber sprach, weshalb ich für sie bis vor kurzem so schwierig war: „Sind wir nicht alle ein bisschen schwierig? Ich bin es auf jeden Fall auch an manchen Tagen.“ Das war zwar nicht das Hollywood Ende, dass ich mir für mein Drehbuch gewünscht hätte, so Mutter und Tochter laufen Hand in Hand dem Sonnenuntergang entgegen, aber wir sind uns deshalb ja nicht weniger friedlich gesinnt. Und das ist ja das worauf es ankommt. Manchmal ist das Zweitbeste eben das Beste.
Du hast in deinem Buch geschrieben, Empathie ist u.a. die Fähigkeit des Perspektivwechsels und die daraus resultierende wohlwollende Begegnung auf Augenhöhe. Perspektivwechsel lernt man meines Erachtens auch durch das Beschäftigen und Auseinandersetzen mit anderen (Lebens-)Geschichten, und Schicksalen. Das Eintauchen, in die Beweggründe für gewisse Handlungen, wie man es auch beim Lesen in der Literatur erleben kann. Denkst du auch, das ist ein guter Weg seine Empathie zu trainieren?
Ja, klar. Identifiziere ich mich mit einer Figur in einem Film oder in einem Buch, kann ich etwas über mich lernen oder Gefühle über die Handlungen der Figur durchleben. Weiß ich mehr über mich, kann ich mir hinterher auch mit mehr Wohlwollen begegnen. Und folge ich einer Kunstfigur, die etwa merkwürdig daherkommt und erfahre etwas über ihre Beweggründe, kann ich dem komischen Kauz bei der Arbeit hinterher wahrscheinlich auch netter oder verständnisvoller begegnen. Der Reflexionsprozess muss für das Erlernen von Empathie aber stattfinden.
Ab wann können Kinder sich überhaupt in andere hineinversetzen?
Mit etwa acht bis zehn Jahren ist das soweit. Unter diesen Links könnt ihr euch da mal ein paar Meilensteine ansehen.
Können wir den Grundstein um Empathie zu lernen, bei Kindern nicht schon früher legen, durch unser Vorleben?
Es gibt diese Sprichwort, Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Und so ist das auch mit der Entwicklung des Gehirns. Trotzdem ist es natürlich von Vorteil, um nicht zu sagen der beste Dünger, wenn Kinder in einem Umfeld groß werden, in dem die Erwachsen sich in deren Lebenswelt einfühlen und hineindenken können, und dementsprechend gelassen und aufgeschlossen reagieren. Sie nicht unter- oder überfordern. Beispielsweise beim Essen. Auch ein häufiges Streitthema. Denn dann gedeiht diese Fähigkeit ganz wunderbar.
Bevor Kinder soweit sind, selbst Empathie zu empfinden, ist es da überhaupt ratsam, sich an ihr Mitgefühl zu richten? Also wenn man beispielsweise als Elternteil grad sehr belastet ist, ihnen die eigene Situation und /oder Reaktion zu erklären?
Nein und Ja. Wir haben die Verantwortung dafür zu sorgen, dass wir nicht überlastet, angestrengt oder überfordert sind. Kinder können nicht für unsere Grenzen sorgen. Wir müssen lernen dann eine Pause einzulegen, wenn unsere Kräfte und Reserven überschritten sind. Wir legen ja beim Autofahren dann auch eine Pause ein, um zu tanken und bitten nicht das Auto darum, doch noch ein bisschen weiter zu fahren. Ich kann meinem Kind dann sagen: Ich weiß, dass Du dich darauf sehr gefreut hast. Aber ich habe gerade keine Kraft mehr zur Verfügung. Und natürlich kann es sein, dass wir unser Kind dann enttäuschen und mit einem Wutanfall zu tun bekommen. Aber das ist eben, wie Kinder ihre Gefühle regulieren, bis sie alt genug sind, es mit Worten auszudrücken.
Eine Vorwarnung am Abend darüber, dass man morgens eilig aus dem Haus muss und deshalb alles flott über die Bühne gehen muss, hilft auch nicht. Kinder leben bis zum 10. Lebensjahr im Hier und Jetzt und können sich kaum daran erinnern, was wir ihnen gestern gesagt haben. Deshalb kommen sich Eltern ja auch vor wie in dem Film „Täglich grüßt das Murmeltier“. Sie denken, wenn sie ihren Kindern etwas sagen, dass sie sich das auch merken können. Das können sie nicht. Besser ist es, mehr Zeit einzuplanen, weil mit Sicherheit ein tolles Spielzeug beim Anziehen die Aufmerksamkeit auf sich lenken wird. Oder ein Schatten der über die Wand huscht.
Natürlich ist es gut, sich zu entschuldigen. Es reicht aber zu sagen: „Das war nicht okay, wie ich reagiert habe. Und das tut mir aufrichtig leid. Ich kümmere mich darum, dass abends nicht so müde und so schnell genervt bin, wenn Dir was nicht gelingt.“ Ich persönlich habe mich auch jahrzehntelang erklärt und gerechtfertigt, bis mir irgendwann mal eine Freundin sagte: „Ich schlaf gleich ein, sag, was Du willst!“ Das war natürlich erstmal ein ganz schöner Hammer für mich. Heute weiß ich, was sie meinte. Wenn mir jemand was erklärt, weiß ich irgendwann nicht mehr, worum es eigentlich geht. Wie sollen das dann kleine Kinder verstehen, die sich nur ein bis zwei Minuten lang am Stück konzentrieren können und die über einen Sprachschatz von etwa 500 Wörtern verfügen?
Aber, wenn man das Bedürfnis hat sich als Eltern dem Kind genau zu erklären?
Dann geht es ihm oder ihr wie es mir an manchen Tagen auch geht. Ich denke dann nur daran, das wichtigste am Ende zu sagen, denn daran können sie sich erinnern. Zumindest für die nächsten fünf bis zehn Minuten. Weshalb Kinder auch oft zeitverzögert reagieren. Sie prozessieren noch, was gerade gesagt wurde.


In deinem Buch sprichst du von der Wichtigkeit der persönlichen Sprache für gelingende Beziehungen. Dabei geht es darum niemanden mit Worten zu verletzen oder seine Wünsche, Gefühle, Bedürfnisse durch seine Sprache abzuwerten. Wie lautet diese Sprache und warum ist sie so entscheidend ?
Wenn ich persönlich spreche, bin ich immer subjektiv und nutze ein anderes aktives Verb als das Vollverb »haben.« Also etwa: »Ich bin besorgt, wie ich aus dieser Situation oder diesem Dilemma rauskommen soll.« Anstatt: »Ich habe ein Problem.« oder: »Du hast ein Problem.«
Warum ist das so?
Haben bedeutet so viel wie besitzen. Haben wir also ein Problem, besitzen wir es. Wir können aber nur Gegenstände besitzen: einen Tisch, ein Auto, Kleider – oder vielleicht auch eine Wohnung. Etwas, was wir besitzen, wollen wir häufig nicht aufgeben. Ein Problem ist aber kein Gegenstand, sondern eine vorübergehende Situation. Manchmal haben sie eine lange Halbwertszeit. Aber letztendlich geht jede noch so schwierige Situation früher oder später vorbei.
Das Gleiche gilt, wenn wir sagen: »Ich habe Sehnsucht.« Persönlich würde man sagen: »Ich sehne mich.«
Denn Prozesse sind im weitesten Sinn Tätigkeiten, und Tätigkeiten drücken sich in der Verwendung von Verben aus, nicht in der Verwendung von Hauptwörtern wie Sehnsucht. Es ist eine Auswirkung des Konsumzeitalters, dass das Verb haben in unserem Sprachgebrauch so häufig ist. Noch vor 200 Jahren, also vor der Industrialisierung, sprachen die Menschen anders.
Im Zentrum eines persönlichen Gesprächs stehen das Ich und das Du – während in einer Debatte die Sache im Zentrum des Austauschs steht. Ziel einer Debatte ist es, die Sache, um die es geht, möglichst objektiv zu betrachten. Ganz abgesehen davon, dass Objektivität immer nur eine Annäherung sein kann, denn wir sehen nun einmal alles durch unsere Augen, dienen Argumente dazu, die Objektivität des Sprechenden zu unterstreichen oder sollen sie bestätigen. Denn Objektivität wird üblicherweise als gut angesehen, Subjektivität hingegen wird allgemein eher als schlecht bewertet. Ziel eines persönlichen Gesprächs ist es, das Subjektive des andern zu verstehen, oder im Umkehrschluss, so subjektiv wie möglich zu sein.
Kannst du dazu mal ein paar Beispiele geben?
Die persönliche Sprache basiert auf »ich will« und »ich will nicht«, auf »ich mag« und »ich mag nicht«. Kinder beherrschen das, lange bevor sie überhaupt sprechen können. Sie drücken das nonverbal mit einem Lächeln aus, wenn sie sich über unsere Kontaktaufnahme freuen. Oder sie drehen den Kopf weg, wenn sie genug Kontakt mit dem Außen hatten. Darauf können wir bewertend reagieren, wie »Komm schon, ich will doch nur mit dir spielen.« oder wertfrei »Ich sehe, du hast genug. Ich komme später noch einmal wieder.« Wenn die Reaktionen der Kinder von uns falsch interpretiert werden, wird das Kind lauter reagieren. Aus einem Lächeln wird dann ein Weinen. Und die Stimmung kippt auf beiden Seiten.
Aber Achtung: »Ich glaube, dass du …« ist keine Ich-Aussage. Gleiches gilt für »Ich meine, dass …« und »Ich glaube, dass ich meine …« Diese Sätze werden benutzt, um bescheiden zu erscheinen und übergriffige Aussagen über den anderen zu kaschieren. Stattdessen könnten wir aber auch sagen: „Meine Meinung dazu ist diese.“ Dann bleiben wir auf der sachlichen Ebene, in einer Diskussion, anstatt etwas persönliches vorzutäuschen. Etwas, was in den meisten Diskussionen heute verwischt und zur Polarisierung, wie wir sie erleben beiträgt.
Die Erfahrung mit meiner eigenen Familie hat mir zeigt, dass Kinder und Jugendliche verzögert auf das reagieren, was wir von ihnen wollen. Das hat damit zu tun, dass die Informationen, die sie erhalten, in ihrem Gehirn langsamer »verarbeitet« werden als bei uns Erwachsenen. Mir half es dann immer einen Moment abzuwarten, was in den nächsten Minuten passiert, wenn meine Tochter sagte, »Ich will aber keinen Mantel anziehen.« obwohl es draußen kalt war. Ich habe es ihr dann in etwa so gesagt: »Das verstehe ich, hier drinnen ist es auch sehr warm. Draußen sieht es aber sehr kalt aus.« Gab ich ihr dann etwas Zeit, kam sie oft spätestens nach 10 bis 15 Minute, den Mantel angezogen oder zumindest in der Hand. Das gilt auch für das Thema Gummistiefel und das Ins-Bett-Gehen. Bis sie ihren eigenen Entschluss gefasst haben heißt es für uns Erwachsene: atmen, atmen, atmen. Und alles zulassen.
Eigentlich ist die persönliche Sprache also das was Kinder von Anfang sprechen. Und wenn wir also versuchen unseren Kindern, ihre Ich-will-Sprache abzugewöhnen, ist das gar nicht richtig?
Genau. Kinder erwerben und erweitern zwar erst mit der Zeit ihren Sprachschatz, um ihre persönlichen Bedürfnisse auszudrücken. Sie sprechen jedoch alle von Geburt an die persönliche Sprache. Mit ihrer Körpersprache, sowie Weinen und Lachen drücken sie ihre Gefühle aus und vermitteln uns ihre Grenzen. Je früher die persönliche Sprache der Kinder von Erwachsenen als solche gesehen und als wertvolles Feedback empfunden wird, desto leichter können sie später mit Worten ihre persönlichen Bedürfnisse und Grenzen zum Ausdruck bringen. Und das ist ja sehr entscheidend, um ein glückliches Leben zu führen.
In der Regel wird die Entwicklung der persönlichen Sprache etwa ab der Einschulung vernachlässigt und befindet sich bei vielen Menschen oft in einer Art Dämmerzustand. Das liegt vor allem daran, dass Kinder spätestens mit der Einschulung eine nette Sprache lernen. Die soziale Sprache. Die soziale Sprache ist höflich und klingt nett: Ich hätte, ich würde, ich möchte gern. Immer überlassen wir dabei dem anderen die Entscheidung, ob ich das, was ich gern hätte und möchte, bekommen kann.
In der sozialen Sprache tummeln sich also viele Konjunktive, sie ist aber auch von den Wörtern »eigentlich« und »vielleicht« geprägt. Alles dreht sich darum, sich in normalen sozialen Situationen auf höfliche Art und Weise zu begegnen und mit einer gewissen Distanz miteinander klar zu kommen. Daran ist nichts Falsches und soziale Sprache ist sehr hilfreich. So können wir beispielsweise, wenn wir mit anderen feiern oder wenn wir bei der Arbeit mit anderen zusammenkommen, in der sozialen Sprache nett mit ihnen über alles Mögliche plaudern oder auch mal die schlechte Laune rauslassen. Das ist kurzfristig angenehm, führt aber nicht zur Lösung des Konfliktes, in dem wir stecken.
Die übliche Art, wie viele Erwachsene auf das reagieren, was Kinder wollen/nicht wollen, mögen/nicht mögen, ist, sie darüber zu belehren, wie sie sein sollten. Dies lässt sie das, was sie uns von sich sagen, als falsch empfinden. Um uns zu gefallen, essen sie dann Tomaten, obwohl sie sie nicht mögen. Oder sie gehen ins Bett, um nicht noch mehr Ärger zu bekommen. Und mit der Zeit entwickelt sich bei ihnen ein Selbstbild, dass einem schwierigen Esser bzw. einem ungehorsamen Mädchen entspricht.
Wie können wir mit Aggressionen in der Familie umgehen? Und vorab, wie wichtig ist es genau hier einen Weg zu finden?
In unserem Vokalbelheft sollte neben dem Wort Aggression stehen: Zustand von Hilflosigkeit, Ohnmacht und / oder Unsicherheit.
Wenn ich mich zum Beispiel an meinen letzten Wutanfall erinnere, weiß ich, dass ich mich irrsinnig hilflos gefühlt habe. Und nicht mehr in der Lage war, zu sagen, „Stop, mir ist gerade alles zu viel. Ich muss mal um den Block gehen.“ oder auch „Raus mit euch allen, für fünf Minuten, sonst platzt mir gleich die Hutschnur.“ Erst war ich mit meiner Aufmerksamkeit zu 100% bei den anderen und dann zu 100% bei mir. Das meinte ich vorhin mit der sechzig:vierzig Formel.
Aggressionen sind ja was ganz wunderbares. Sie ermöglichen uns, große Dinge zu erfinden und uns aufeinander zuzubewegen. In unserer Gesellschaft, besonders bei Jungs, wird viel zu oft etwas in deren Aggressionen hinein interpretiert, was völlig aus der Luft gegriffen ist. So nach dem Motto währet den Anfängen.
Es ist völlig normal sich unter Kindern zu hauen, prügeln, rum zu rangeln. Ich war als Kind eine zeitlang im Kinderheim. Da waren wir nach dem Frühstück draußen auf der Wiese oder im Wald und haben unsere Kämpfe ausgetragen und es war gut. Und wenn wir reinkamen, weil es doch mal geblutet hat, haben wir ein Pflaster bekommen. Ohne große Belehrungen oder Ermahnungen, dass man das nicht macht.
Warum ist Empathiefähigkeit deiner Meinung nach auch für die gesamte Menschheit so essentiell wichtig?
Wenn wir unsere Fähigkeit zur Empathie ausbauen, haben wir sie immer zur Hand – to go! Wir brauchen kein Bankkonto dafür, das morgen einer Finanzkrise zum Opfer fallen kann.
Die Art, wie wir gewöhnlich mit Aggression umgehen, trägt meiner Ansicht nach zu der Polarisierung bei, die auf der Welt herrscht. Und was wir brauchen, um diese allgemeine Krise zu bewältigen ist: Zusammenhalt, anstatt zu polarisieren und sich voneinander abzuschotten. Und das geht mit Empathie und Mitgefühl. Beides ist aus meiner Sicht eine Notwendigkeit, wenn die Menschheit diesen Prozess überleben soll. Viele derer, die sich mit dem globalen Zustand beschäftigen, von Vertretern verschiedener religiöser Traditionen bis hin zu den Wissenschaftlern aller Bereiche, sagen das. Wir müssen die Art und Weise unseres Alltags ändern, die noch zu oft auf Angst und Aggressionen basiert, auf Egoismus und Materialismus. Und mehr Klarheit über die Verbundenheit aller Menschen und unserer Umwelt gewinnen, indem wir unsere Herzensqualitäten wie Liebe und Wohlwollen verstärkt leben.
Die letzten zwei Jahre zeigen das deutlich. In einer solchen Situation, wie mit Corona reicht es nicht, nur anständig und freundlich zu sein. Dafür muss man eine tiefliegende Zäsur mit sich machen, damit man dann im Chaos mit Empathie und Klarheit wirken kann. Der eigentliche Prozess, den wir also als Menschen machen müssen, ist, dass wir einen inneren Wandel durchleben müssen. Ohne Persönlichkeitsentwicklung, ohne die Auseinandersetzung mit den eigenen Schattenseiten, ohne Biografiearbeit kann kein gesellschaftlicher Wandel stattfinden. Und Achtsamkeitsübungen, Meditation und die Verbesserung der Beziehungsqualität sind die Hilfsmittel dafür.
Und genau aus dem Grund ist es so wichtig, dass Familien und ihren Kindern und Schulen das Wissen und die Übungen zu Empathiefähigkeit zur Verfügung gestellt wird. Weil darin die Hoffnung für das Bestehen der Menschheit liegt. Wie sollen wir sonst mit dem Klimawandel umgehen, dessen Herausforderungen ja noch auf uns zu kommen werden?
Familien sind für mich die kleinste politische Einheit. Je mehr Familien einen empathievollen Umgang praktizieren, je mehr eine liebevolle Atmosphäre sich entfalten kann, desto mehr Einfluss üben diese Qualitäten auf die gesamte Gesellschaft und damit auch auf das politische Geschehen aus.
Unsere Kinder sind die nächste Generation, die diese Welt zu einem besseren Ort machen können. Es ist wirklich sehr wichtig, dass Familien sich darüber bewusst sind, welche Verantwortung und Macht sie in der Gesellschaft haben. Auch wenn sie sich dessen häufig nicht bewusst sind. Es ist so. Familien und Schulen. Hier verbringen Kinder die meiste Zeit bis sie erwachsen sind. Dort müssen wir es den Kindern beibringen und vorleben. Der Dalai Lama, hat dazu eine pädagogische Forschungsinitiative ins Leben gerufen: das Mind & Life Institute (MLI). Mission dieser Forschungsinitiative ist es, eine Milliarde Kinder zu erreichen und sie in diesem Bereich zu fördern.
Zum Abschluss liebe Mona, was möchtest du allen Eltern als Leitbild mitgeben, wenn es um Kommunikation in der Familie geht?
Ich komme ja ursprünglich aus Frankfurt am Main und da sagt man: „Ned schwätze, mache.“
Habt regelmäßig Gespräche über eure wichtigsten Erwartungen, Wünsche und Vorstellungen zu den verschiedenen Bereichen der Partnerschaft, auch wenn die mal anstrengend sind. Denn diese Dinge verändern sich ja im Laufe der Jahre oder je nach Situation. Und oft wissen wir das weder von uns noch vom Anderen.
Verabredet euch zu einem gemeinsamen Abendessen. Eine Verabredung markiert das Setting, so wie wir es im Beruf ja auch machen. Da kann man sich drauf vorbereiten und die Gefühle übermannen einen nicht mehr als nötig, wenn es mal unbequem wird.
Das sind einige Bereiche um die es gehen kann: wie seht ihr eure Rollen im Familienleben, welche Haltung habt ihr zu Geld, welche Sexualität und Intimität bevorzugt ihr, wie frei wollt ihr sein, was ist zu weit, was ist zu nah. Was und wieviel an Bewegung, Geselligkeit, Kunst und Kultur tut euch jeweils gut. Und was braucht ihr, wenn ihr krank seid. Was wollt ihr alleine machen und was lieber zu zweit.
Diese Gespräche helfen euch zu sehen, ob ihr in den wichtigsten Bereichen noch auf dem selben Kurs seid. Und wenn ihr mal feststellt, dass ihr nicht in die selbe Richtung segelt, könnt ihr so rechtzeitig eine Kursveränderung vornehmen. Und zu guter Letzt bei einem Konflikt, den liebevollen Blick füreinander bewahren, den ihr füreinander hattet, als ihr mal Ja zu einander gesagt habt.

