
FRAG MAL MONA„Was soll ich machen, wenn ich von Gewalt gegen Kinder in meinem Umfeld höre?"
Die Familientherapeutin Mona Kino beantwortet eure Fragen und berichtet aus ihrer Perspektive. Es sind keine Lösungen im herkömmlichen Sinn (denn die eine Lösung gibt es nicht), vielmehr Anleitungen und Ideen dafür, den individuellen Lösungen in sich auf die Spur zu kommen.
„Meine Tochter (6) hat mir ihrem Schulfreund telefoniert. Dabei hat er ihr erzählt, dass er immer geschlagen wird, es ihm aber schon gar nichts mehr ausmacht, weil er sich dabei aufs Zählen konzentriert. Mein Mann sagt, er lügt bestimmt. Was soll ich machen?“, fragt Tina
Liebe Tina,
Ich kann mir das Dilemma gut vorstellen in dem du steckst. Ich denke, vielen geht es so, dass sie nicht wissen, was in einer solchen Situation die beste Handlungsweise ist.
Das Wichtigste vorab: Kennst du die Eltern nicht so gut, ist meine Haltung eindeutig: Ruf das Jugendamt oder den Notdienst Kinderschutz an. In Berlin ist das die Nummer 030/610061. (Nummern von den Notdiensten in anderen Städten, die sich um den Kinderschutz kümmern, findest du im Internet.) Denn wenn das Vertrauen fehlt, werden die Eltern mit großer Wahrscheinlichkeit nach außen hin nett und freundlich und beschwichtigend sein, dem Jungen dann aber vielleicht untersagen, mit eurer Tochter weiter Kontakt zu haben. Und es ist leider nicht auszuschließen, dass sein „Verrat“ zusätzlich bestraft wird.
Wir sollten ernst nehmen, was der Schulkamerad deiner Tochter anvertraut. Jedes Jahr sterben in Deutschland etwa 500 Kinder durch die direkten Folgen von häuslicher Gewalt. Wie viele der Spätfolgen der neurotischen Krankheitsbilder, Drogen und Suizid im direkten Zusammenhang mit erlebter häuslicher Gewalt im Kindes- und Jugendalter stehen, ist nicht belegt, weil die Anzeigen dazu fehlen.
Im Jahr 2017 wurden zum Beispiel 3542 Fälle zur Anzeige gebracht. Wobei davon ausgegangen wird, dass das nur jeder 400ste Fall ist, da viele Kinder noch im Säuglings- und Kleinkindalter sind und nicht auf sich aufmerksam machen können. Die Anzahl des sexuellen Missbrauchs an Kindern stieg von 2018 bis 2019 um 10,9 Prozent auf 13670 Fälle. Für viele Erwachsene stellt Gewalt in Form von emotionalem Missbrauch und Vernachlässigung keinen ausreichenden Grund für eine Anzeige dar. Erst wenn blaue Flecken zu sehen sind.
Manchmal ist es aber schon hilfreich, die Eltern zu kontaktieren und sie zu fragen, wie es ihnen gerade geht?
Besonders jetzt. Die Quarantäne ist für uns alle eine große Herausforderung, und wir sind schneller als sonst mit dieser neuen Situation überfordert. Das Thema ist mit viel Scham und Schuldgefühlen behaftet und es erfordert viel Kraft, sich zu öffnen. Sagt die Mutter dir zum Beispiel am Telefon: „Ach, ich weiß auch nicht, mir sitzt die Hand grade so locker.“ Oder: „Mein Mann, kann seine Wut überhaupt nicht kontrollieren. Ständig schreit er unseren Sohn an, dass er ihm nicht auf die Nerven gehen soll.“ Dann gebe ihr den Hinweis, dass sie telefonische Beratung bekommen kann, wie sie und ihr Mann in dieser Zeit besser für sich sorgen können, damit sie ihr Kind nicht schlagen. Oder auch, dass es ihr Recht ist, die Polizei zu rufen.
Denn bei allem steht nicht ihre Kooperation mit ihrem Mann im Vordergrund, sondern das Wohl des Kindes. Auch wenn das für viele schwierig ist, darum geht es. Um nichts anderes. Und wenn ihr das zu schwerfällt, dann kannst du ihr auch anbieten, an ihrer Stelle den Anruf zu tätigen. Wichtig ist, dass du beharrlich in deiner Haltung dem Geschehen gegenüber bleibst.
Leider unterstellen Erwachsene den Kindern häufig, dass sie lügen, um sich wichtig zu machen. Kinder lügen, wenn ihre Eltern nicht mit der Wahrheit umgehen können. Aber allein das ist ein Hinweis dafür, dass die Familie Hilfe braucht. Zum Beispiel eine Familientherapie, die sowohl privat als auch von gemeinnützigen Verbänden, wie pro familia, angeboten werden. Und seit Dezember letzten Jahres werden sie auch von den Krankenkassen als anerkanntes psychotherapeutisches Verfahren übernommen.
Denn eins ist völlig klar: Dieser Virus und alles, was gerade in unserer Welt passiert, ist schrecklich und bedrohlich, beängstigend und für sehr viele Menschen auf verschiedenen Ebenen existenziell. Dass vier der wichtigsten und größten Themen gerade zeitgleich auf uns einwirken – die Konfrontation mit dem Tod, Freiheitsentzug, Isolation und Sinnlosigkeit – ist dabei in der Geschichte unserer Weltgemeinschaft einzigartig.
Was ich damit sagen will: Gewalt gegen Kinder, egal in welcher Form, ist niemals gerechtfertigt, auch nicht in Friedenszeiten, wenn wir nur einer Herausforderung begegnen.
Und zu guter Letzt noch diese Perspektive: Es geht bei der ganzen Angelegenheit auch um deine Selbstfürsorge. Wenn du also nicht schlafen kannst oder dich die Gedanken an den Jungen über den Tag hin immer wieder einholen, dann sorge für dich, indem du zum Hörer greifst. Nimm dich ernst. Auch wenn dein Mann, das anders sieht.
Die Mitarbeiter der Krisendienste sind gut geschultes Personal und können dir behilflich sein, dich zu sortieren. In den meisten Fällen wirst du mit zwei Mitarbeitern sprechen, die mit dir die Situation ausloten.
Wenn euch die Familie nahesteht, dann kannst du die Anzeige auch anonym machen. Nicht, weil du zu wenig Mut hast, sondern auch, weil es gut ist, wenn deine Tochter als Kontakt zur Familie bestehen bleibt und ihr so wichtige Veränderungen mitbekommen könnt.
Außerdem zeigst du deiner Tochter jetzt schon, dass du nicht tatenlos zusiehst, auch wenn du dir unsicher bist. Aber das ist beim ersten Mal ganz normal. Wie bei allem, was wir zum ersten Mal machen.
Väter oder Mütter, die jetzt – oder überhaupt schlagen -, sind keine Unmenschen. Sie sind außer sich, haben nicht gelernt, ihre Impulse zu kontrollieren und brauchen so oder so Hilfe, dies zu lernen. Denn ihnen geht es hinterher auch nicht gut. Wenn wir aber außer uns sind, ist unser Blickfeld eingeengt und natürlich nehmen wir dann ein solches Hilfsangebot – noch dazu, wenn es ein staatliches ist – häufig als ein Scheitern und als eine Bedrohung wahr. Wir haben Angst, das zu verlieren, was wir so sehr lieben. Wir wissen nur nicht, wie wir diese Liebe zu unseren Kindern ausdrücken können.
Aber ich weiß von vielen Familien, dass sie heute glücklich über diesen Eingriff von außen sind, nachdem sie die Hilfsangebote erst einmal kennengelernt haben.
Herzlich, Mona